Manche Ratschläge entfalten ihre wahre Bedeutung erst mit der Zeit. Sie liegen irgendwo in unserem Gedächtnis, vielleicht sogar in unserem Herzen, und warten darauf, dass wir bereit sind, sie wirklich zu verstehen.
„Bleib so wie du bist.“
Dieser Rat kam von meiner Mutter, als ich ca 19 Jahre alt war. Ich war jung, neugierig und voller Tatendrang. Mein erstes großes Abenteuer stand bevor: sechs Monate Saisonarbeit in Ischgl, in einem 4-Sterne-Hotel. Ich wusste nicht, was mich dort erwarten würde, und suchte Halt. Also fragte ich sie: „Hast du einen Rat für mich?“
Ihre Antwort war so einfach, dass sie mir damals rätselhaft erschien: „Bleib so wie du bist. Dann kannst du alles schaffen!“
Ich verstand es nicht. Wie sollte ich jemand anders sein? Ich bin doch ich! Ich nahm ihre Worte an, aber ich konnte nichts damit anfangen. Damals mochte ich mich so, wie ich war: jung, motiviert, voller Freunde und mit einem unerschütterlichen Glauben an meine Möglichkeiten. Das Leben lag vor mir, und alles fühlte sich leicht an.
Doch zwanzig Jahre später, erkenne ich erst, was sie wirklich meinte.
Die leisen Schritte des Sich-Verlierens
Denn ich habe mich verloren.
Ich habe meine Gedanken getauscht mit denen der anderen. Ich habe meinen Mut, so zu sein, wie ich mich liebe und wie ich mich mag, verloren. Über Jahre hinweg habe ich meine Zweifel gefüttert und genährt, bis sie so groß wurden, dass sie mich übernahmen. Ich hörte nicht mehr auf das, was ich mir selbst sagte – sondern nur noch auf die kritischen Stimmen in mir, die immer in der Sprache der anderen zu mir sprachen.
Meine eigene Stimme, die ich einst war, verstummte. Ich konnte sie nicht mehr hören. Auch wenn ich still war – sie war weg.
Diese Erkenntnis traf mich tief. Denn es war passiert: Ich war nicht mehr ich. Ich war die anderen, so wie sie mich möglicherweise gewollt hätten. So, dass ich ihnen entsprach.
Doch ich mochte dieses Ich nicht. Ich konnte ihm nicht vertrauen. Denn wenn ich etwas sagte, war es ja falsch – die Anderen hatten recht.
Ich verbog mich, änderte meine Sprache, mein Aussehen, meine Gedanken. Ich verlor meinen Mut, mich selbst zu finden. Denn das ursprüngliche Ich war nicht richtig, nicht gut genug. Dem ursprünglichen Ich passierten Dinge, die weh taten.
Und so schaufelte ich mir mit jeder weiteren Schicht des „So darfst du nicht sein“ mein eigenes Grab. Bis ich eines Tages aufwachte und mich nicht mehr erkannte.
Die leise Wahrheit hinter den Worten meiner Mutter
Jetzt verstehe ich ihren Rat.
Es ging nicht darum, sich nie zu verändern. Es ging darum, sich nicht zu verlieren.
Ich vermisste mich. Ich vermisste meine wohlwollende, begeisternde Stimme. Die Stimme in mir, die mir Mut machte, die sagte: „Du bist toll. Du bist genau richtig.“
Früher dachte ich oft: „Scheiß drauf… ICH mache es aber so. Meine mutige und selbstliebende Stimme!
Doch nun, da ich erkenne, was geschehen war, konnte ich mich auch entscheiden, den Weg zurück zu gehen.
Es ist nie zu spät, sich selbst wiederzufinden. Nie zu spät, die eigene innere Stimme aus dem Lärm der Zweifel zu befreien. Sie ist nicht verschwunden – sie wartet darauf, dass ich wieder hinhöre.
Und wenn ich heute meinen Rat an mich selbst formulieren müsste, dann wäre es nicht nur das einfache „Bleib so wie du bist.“
Es wäre:
„Wenn du dich verloren hast – finde dich wieder. Denn du warst schon immer genug.“
Drei Tipps, um dich wieder zu finden, wenn du dich verloren hast:
💡 1. Sei liebevoll mit dir – das Sich-Verlieren ist kein Versagen, sondern eine Erfahrung
Wenn du merkst, dass du dich verloren hast, könnte dein erster Impuls sein, dich selbst zu verurteilen: „Wie konnte ich das nur zulassen?“ Doch statt mit Härte auf dich selbst zu reagieren, begegne dir mit Sanftheit. Es passiert vielen Menschen, sich in den Stimmen der anderen zu verlieren – aber du hast jetzt die Möglichkeit, dich aktiv wiederzufinden. Akzeptiere, dass es so war. Und dann entscheide dich bewusst, den Weg zurückzugehen. Nicht mit Schuldgefühlen – sondern mit Liebe.
💡 2. Erwecke deine innere Stimme wieder zum Leben – sie ist nicht verschwunden, nur überlagert
Vielleicht fühlt es sich an, als sei deine eigene Stimme verstummt. Doch sie ist nicht weg – sie wurde nur von den Meinungen, Erwartungen und Zweifeln anderer überlagert. Fange an, wieder in Kontakt mit ihr zu treten. Frage dich: „Was würde mein früheres Ich sagen?“, „Was wollte ich eigentlich immer tun?“ Schreibe deine Gedanken auf, sprich laut mit dir selbst, erinnere dich an Momente, in denen du dich selbst noch gehört hast. Deine Stimme ist da. Sie wartet darauf, dass du wieder hinhörst.
💡 3. Tu jeden Tag etwas, das dich zurück zu dir bringt – kleine Schritte sind mächtig
Selbstfindung ist keine plötzliche Erkenntnis, sondern ein behutsamer Prozess. Mache jeden Tag eine kleine Sache, die sich nach dir anfühlt. Höre ein Lied, das dich früher begeistert hat. Entscheide dich bewusst für etwas, das nur für dich ist – egal wie klein. Vielleicht ist es ein Spaziergang allein, eine mutige Entscheidung, eine Umarmung für dich selbst. Diese Schritte mögen unbedeutend erscheinen, doch mit jedem von ihnen kommst du näher zu dir zurück.
Mein neues Versprechen an mich selbst
Ich habe mich verloren, aber ich werde mich zurückholen.
Nicht zaghaft. Nicht leise. Sondern voller Entschlossenheit.
Ich werde mich nicht länger verstecken hinter den Erwartungen anderer. Ich werde meine eigene Stimme wiederfinden – und diesmal wird sie laut sein. Klar. Unerschütterlich.
Ich bin nicht hier, um mich zu verbiegen. Ich bin nicht hier, um mich kleinzumachen.
Ich bin hier, um zu sein, wer ich wirklich bin.
Und genau das werde ich tun.
Denn meine Wahrheit zählt. Meine Stimme zählt. Mein Ich zählt.
Ich war schon immer genug – und jetzt werde ich es leben.